Dissention Kapitel 2: Irgendwo auf einer Welt namens Erde

Die Welt drehte sich schnell.

Entweder das oder in Jhykrons Kopf drehte es sich schnell.

Margaritas sollte man nicht in einem Zug hinunterkippen. Und aus Bierkrügen sollte man sie auch nicht trinken. Vor allem nicht aus mehreren Krügen hintereinander.

Alkoholvergiftung war hierzulande eine ernsthafte Gefahr.

Zum Glück für die ansässigen Einwohner fuhr er nicht mit dem Auto. Zu Jhykrons Pech war es ein langer Heimweg zu Fuß.

Ein sehr langer Heimweg für jemanden, der so voll war, dass er dachte, er heiße „Jhykron“.

Es war eine kalte feuchte Nacht. Zu allem Überfluss begann es offenbar auch noch zu regnen.

Die Straßen waren um die Zeit meistens menschenleer, bis auf die üblichen Motorradfahrer, die die einsame Stille und das Tempolimit durchbrachen. Auf der Straßenseite war ein kleiner Park.

Das war ein Geschenk des Himmels. In Parks steht gerne mal ein Baum. Und ein Baum war genau das, was Jhykron in diesem Moment brauchte. Er stolperte auf etwas zu, das ihm durch seine verschwommene Sicht wie ein Baum vorkam.

Einen gutbefeuchteteten Baum später machte sich Jhykron daran, wieder auf die Straße zurückzugehen. Für jemanden, dem die Sinne so vernebelt waren, dass er nicht mehr geradeaus gehen konnte, stellte sich das aber als etwas schwierig heraus.

Fluchend torkelte Jhykron dahin und stolperte beinahe über einen herumliegenden Stein. Es könnte auch nur eine Halluzination gewesen sein, aber ihm schien fast, als blitzte ein grelles blaues Licht vor ihm auf.

Schon merkwürdig, dass so ein perfekt geformter Stein mitten im Rasen dieses Parks lag. Noch merkwürdiger, dass das nicht nur ein einzelner Stein war, sondern gleich einer von mehreren, die zusammen einen geschlossenen Kreis bildeten. Das alles merkte Jhykron aber gar nicht.

Der Wagen war aber nicht zu übersehen. Es war ein alter, bunt bemalter Zigeunerwagen, einer von der Sorte, die man zu jener Zeit nur mehr auf Jahrmärkten zu sehen bekam.

„Willkommen, oh Suchender,“ rief eine weibliche Stimme aus dem Wagen heraus.

Da es gerade zu regnen begonnen hatte, fasste Jhykron dies als Einladung auf.

Das Innere des Wagens war dicht bepackt, mit einer Menge Fläschchen und Antiquitäten auf den seitlichen Regalen. Ein kleiner runder Tisch stand in der Mitte am Boden des Wagens, und dahinter saß eine schwarzhaarige Zigeunerin mit glatter Haut.

„Endlich seid Ihr gekommen, um Euer Schicksal zu erfüllen,“ sprach sie laut flüsternd. „Setzt Euch zu mir, und ich werfe das Licht der Tugend auf den Schatten Eurer Zukunft.“

„Oh Mann, und ich dachte, -ich- wäre vo... voll,“ stotterte Jhykron. Aber sein Verstand war vom Drehen in seinem Kopf und den Düften im Wagen vernebelt, also entschied er sich, mitzumachen, zog eine Holzkiste neben den Tisch und setzte sich drauf.

„Erblicket die Tugenden des Avatar,“ kündigte die Zigeunerin an, als sie einen Stoß merkwürdiger Karten hervorzog.

„Langscham, langscham, meine Liebe, Glückschspielen isch in dieschm Schtaat nich erlaubt. Oder bischt du eine von dieschn Indianer-Auschnahmen?“

„Lasst uns die Sitzung beginnen!“

Sie zog zwei Karten und deckte sie auf, auf den gegenüberliegenden Seiten des Tisches. Die linke Karte zeigte ein offenes Buch, die rechte einen hölzernen Stock. Letztere erregte Jhykrons Aufmerksamkeit.

„Wooow! Goldfolien-Collectorsch-Edition! Schogar unterscheichnet von Dennisch Loubet. Die musch ja einigesch wert schein!“

Ob die Zigeunerin das gehört hatte, ließ sie sich nicht anmerken. So als ob sie von einer höheren Macht gelenkt worden wäre, fing sie zu sprechen an,

„Euer Lord glaubt fälschlicherweise, einen Drachen erlegt zu haben. Ihr habt einen Beweis dafür, dass Eure Lanze das Untier tötete. Wenn man Euch danach fragt, werdet Ihr A) Ehrlich die Tötung für Euch beanspruchen; oder B) Euren Lord bescheiden in seinem Glauben lassen?“

Jhykron blickte sie entgeistert an. Die Zigeunerin erwartete anscheinend eine Antwort auf dieses Gelaber. Schließlich schüttelte er den Kopf und sagte, „Isch nehm’ die Goldkarte. Die da.“

Sie nahm seine Wahl zur Kenntnis und legte die Karte auf einen neuen Stoß, während sie die andere vom Tisch weglegte. Nachdem das erledigt war, deckte sie zwei neue Karten auf. Auf der einen war eine Waage abgebildet, auf der anderen ein goldener Pokal. Beide Karten gehörten zur einfachen Edition und waren nicht unterzeichnet.

„Ihr habt geschworen, Eurem Lord stets treu zu dienen. Er nimmt ein Stück Land in Anspruch und weist Euch an, den Besitzer zu enteignen. Werdet Ihr A) der Gerechtigkeit dienen und die Tat verweigern, auch wenn Ihr dann entehrt würdet; oder B) Euren Schwur einhalten und den Landbesitzer vertreiben?“

Jhykron blickte nachdenklich auf und ab, dann zeigte er auf die Pokal-Karte.

„Ein örtlicher Schläger fordert Euch zu einem Kampf heraus. Werdet Ihr A) tapfer den Gauner antreten; oder B) ablehnen, weil Ihr in Eurem Geiste spürt, dass am Ende nichts Gutes herauskommen wird?“

„Nehmen wir halt dasch Antreten-Scheug, fallsch dasch heißcht, dasch wir dasch geile Schwert nehmen.“

„Euch und Euren Freunde wurde der Rückzug befohlen. Werdet Ihr in Verweigerung Eurer Befehle A) Aus Mitleid anhalten und einem verwundeten Kameraden helfen; oder B) Euch opfern, um den Feind aufzuhalten, so dass andere fliehen können?“

„Und C) weder noch, gibt’sch nischt? Nein? OK, dann halt dasch Mitleid-Scheug. Gut, dasch waren alle Karten, was gewinn’ ich?“

Die Zigeunerin nahm den Stoß Karten, die Jhykron gewählt hatte, in die Hand und deckte die unteren zwei genauso auf wie die Karten zuvor. Vor Jhykron lagen nun die wertvolle Karte mit dem hölzernen Stock und die Karte mit dem Goldpokal.

„Obwohl Ihr nur ein einfacher Schafhirte seid, hat man entdeckt, dass Ihr von einer Adelsfamilie abstammt, die man schon ausgestorben glaubte. Werdet Ihr A) Ehrenvoll die Waffen Eurer Vorfahren übernehmen; oder B) Eurer friedliches, einfaches Leben bescheiden fortführen?“

„Schag niemalsch nein schur Goldfolien-Karte. Die andere isch garantiert Müll.“

„Ihr schafft es, Euren tödlichen Feind im Duell zu entwaffnen. Sein Leben hängt an Eurer Gnade. Werdet Ihr A) Mitleid zeigen und ihm erlauben, sich zurückzuziehen; oder B) Ihn niederstrecken, wie man es von einem tapferen Duellanten erwartet?“

„Den Arsch um die Strecke bringen,“ zuckte Jhykron mit den Schultern.

Die endgültige Wahl stand bevor, zwischen der wertvollen von Dennis Loubet unterzeichneten Goldfolien-Sammlerkarte mit dem hölzernen Stock und der normalen Karte mit dem glänzenden Schwert.

„Obwohl Ihr ein einfacher Fischer seid, führt Ihr auch geschickt die Klinge. Euer Lord sammelt Männer für eine Garde in Friedenszeiten. Werdet Ihr A) Dem Ruf folgen, so dass jeder Eure Tapferkeit bezeugen kann; oder B) Bescheiden das Angebot ausschlagen, der größtenteils zeremoniellen Ritterschaft Eures Lords beizutreten?“

Jhykron traf seine Wahl.

„Der Pfad des Avatar liegt vor Euch, oh Auserwählter. Gehet fort und bringt die Kunde den Menschen, die sie mit Freude empfangen werden!“

Die einzige Antwort, die Jhykron für sie parat hatte, war ein lautes Schnarchen, als er auf dem Tisch eingeschlafen war.


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