Dissention Kapitel 4: Eine Schafweide in New Magincia

Wie es zu seiner Abendroutine gehörte, suchte sich Jhykron der Hirte einen netten Baum, unter dem er zur Entspannung etwas las und sich vor der Verantwortung drückte, auf Katrinas Herde aufzupassen. Dieses fälschlicherweise in ihn gesetzte Vertrauen hätte schlimme Konsquenzen gehabt, wenn Jhykron nicht den Hirtenazubi Reklaw am Hals gehabt hätte, einen schwer schuftenden Jungen, der witzigerweise Angst vor Schafen hatte. Reklaw war ein etwas beschränktes, leicht manipulierbares Waisenkind in seinen späten Teenager-Jahren, dem Jhykron die echte Arbeit aufhalste, während er sich selbst schamlos Bücher aus Katrinas Sammlung ausborgte.

„Was lest Ihr da?“ fragte Reklaw keuchend, sichtlich erschöpft vom ständigen Zusammentreiben der Schafe.

Jhykron blickte auf. „Noch mehr Geschichte,“ antwortete er. „Das hier ist eine Aufsatzsammlung über das dritte Zeitalter der Finsternis in Britannia.“

„Meine Oma las mir Geschichten davon vor, als ich noch klein war. Der Avatar rettete damals das Land vor der Höllenausgeburt Exodus, oder?“

„Das glauben fast alle,“ pflichtete Jhykron bei. „Aber einer dieser Autoren behauptet, dass die Rolle des Avatar erst später hinzugedichtet wurde, während in Wahrheit ein Bobbit-Barbar und drei Fuzzy-Eunuchen Exodus um die Ecke gebracht hatten.“

„Fuzzys?“ setzte Reklaw seinen üblichen verblüfften Gesichtsausdruck auf.

„Eine Spezies, die damals in Britannia existierte,“ erklärte Jhykron. „Vielleicht waren sie die Vorfahren der Emps im Großen Wald.“

„Ach so,“ blickte Reklaw noch immer verwirrt drein. „Und was ist ein Bobbit?“

„Frag mich lieber nicht.“

„Dann eben nicht,“ sagte Reklaw. „Tut mir leid, aber das klingt wie dummes Geschwätz, mein Herr.“

„Hmmmm, was?“ blickte Jhykron wieder auf. Er war gerade vom Anblick der Wasserträgerin Constance abgelenkt, wie sie vom Brunnen im Stadtzentrum hin- und zurückwanderte (eine Tätigkeit, die jeden männlichen Einwohner über 10 im Dorf ablenkte). Wegen dem Besatzungstrupp von Buccaneer’s Den am nördlichen Ende der Insel sah man junge Frauen nicht oft draußen.

„Ich wollte nur sagen, mein Herr,“ wiederholte Reklaw, „dass es sich für uns, die dem Pfad des Avatar folgen, nicht gehört, solchen Unsinn zu verbreiten.“

Jetzt blickte zur Abwechslung Jhykron verwundert drein. „Dem ’Pfad des Avatar’ folgen? Nun mach aber mal einen Punkt!“

„Aber das tun wir doch,“ protestierte Reklaw. „Standhafte Hirten sind wir, die friedlich und in aller Bescheidenheit die Tugend der Demut praktizieren.“

Jhykron stieß einen lauten Lacher aus, als er das hörte.

„Stolz sind wir auch noch darauf, hm?“ fragte er.

„Nun ja, äh, ja... Ich meine, äh... nein...“

„Reklaw, du bist ein einfacher Mann,“ sagte Jhykron. „Und das meine ich im abfälligsten Sinn, den du dir nur vorstellen kannst. Also sag mir, was ist so toll an der Demut?“

„Tja,“ setzte Reklaw stur nach, „sie ist eine der acht Tugenden!“

„Die Adeligen wollen, dass du genau so denkst,“ erklärte Jhykron. „Gibt es einen besseren Weg, die Bauern im Zaum zu halten, als Predigten über das Stapfen im Schlamm zu halten, so als ob es eine Art ’Tugend’ wäre? Wenn die das wirklich alle so toll finden, warum hast du dann nie gesehen, wie sie es -selbst- machen?“

„Aber der Avatar...“

„Hat wahrscheinlich in seinem Leben nicht einmal etwas Demütiges gemacht,“ gab Jhykron die Initiative in diesem Streit nicht auf. „Kannst du mir eine einzige Stelle in den ganzen Geschichten deiner Großmutter nennen, wo der Avatar Demut zeigte? Kam für ihn oder sie jemals etwas anderes in Frage, als der große Held zu sein und die Bewunderung aller Menschen zu ergattern?“

„Nun?“ drängte Jhykron.

„Wohl eher nicht,“ gab Jhykron nach einer Weile selbst die Antwort, da man von Reklaw, dem der Mund vor lauter Staunen weit offen stand, keine erwarten konnte. „Ist auch egal, jetzt beweg dich wieder, die Schafe wandern schon wieder umher.“

Jetzt, wo er den Jungen wieder abgelenkt hatte, konnte Jhykron in Ruhe das Kapitel fertiglesen, das er begonnen hatte, bis er sich entschloss, für diesen Tag genug gearbeitet zu haben, und seinen Lehrling anwies, die Schafe im Stall einzusperren. Als das erledigt war, stand er auf und spazierte zurück zur Taverne.

In der Nähe der Bauernhöfe am Rand des Dorfes blieb Jhykron stehen und zog eine kleine Karte aus seiner Tasche. Die Ränder waren abgenutzt, der Glanz der Goldfolie verblasst, und die Unterschrift des Zeichners fast unlesbar, aber das Bild des Hirtenstocks war ironischerweise noch immer da. Fluchend zeriss Jhykron die Karte in tausend Schnipsel und ließ sie den nächtlichen Wind wegblasen.

„Es reicht, ich habe das Gefühl, hier mein ganzes Leben zu vergeuden!“

„Ihr seid doch erst seit einer Woche hier,“ versuchte Reklaw ihn zu beruhigen.

„Eine Woche Hirte zu sein ist eine Woche zu lang,“ erwiderte Jhykron. „Es ist an der Zeit, eine neue Karriere einzuschlagen.“

Diese Worte gesprochen, rannte Jhykron hinüber zur Werkzeughütte des Bauern und kam mit einer rostigen Pflugschar zurück. Über die Anstrengung fluchend klammerte er ein Ende unter seinen Fuß und versuchte, sie geradezubiegen.

„Da, bitte,“ sagte er schließlich. „Ich werde mit diesem Schwert an meiner Seite mein Glück versuchen.“

„Das sieht aber nicht gerade wie ein Schwert aus,“ meinte Reklaw. „Hab noch nie so ein krummes Schwert gesehen.“

„Es ist nicht krumm, es ist gewölbt,“ sagte Jhykron. „Wie eine Sense.“

„Na wenn Ihr meint...“ erwiderte Reklaw. Dann bemerkte er, dass die Spitze des „Schwertes“ seinen Hals berührte. „Eine ausgezeichnete Waffe, wollte ich sagen.“

„Das wäre also geregelt. Morgen nacht sehen wir zu, dass wir von dieser Insel wegkommen.“

„Was ist mit Katrina?“

„Sie kann sich einen anderen Idioten suchen,“ sagte Jhykron. „Wo zur Hölle geht sie am Abend überhaupt hin?“

„Ja, und die Schafe?“

„Die können mich am Arsch lecken.“

Reklaw blickte entsetzt drein. „Was, alle?“


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